The Rescue of Design

Title A journey to Mike Hoge on behalf of the 20th Anniversary of Gothic

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# Phoenix und die Rettung des Designs
## Eine Reise zu Mike Hoge zum 20. Jubiläum von Gothic

Einsame Weihnacht

24.12.2020 - Neuer Eintrag im Tagebuch

22 Uhr. Meine Hände zittern vom Tastendruck.
In den vergangenen zwei Monaten hatte ich 10kg verloren, die aufzubauen ich 2 Jahre brauchte. Begraben unter den Trümmern des Tempels, den ich mir erbaut hatte. Er war eingestürzt. Doch “the deed has to be done, for it’s written in the old scrolls that it will happen,” wie Mike sagte, in einem Interview von 1998, als die Vision von Gothic noch eine etwas andere war.

Die Tage zuvor hatte ich bis in die Nächte daran gearbeitet, ein Update rechtzeitig fertig zu stellen, eine neue Version unseres Gothic Archivs und eine neue Website: phoenixthegame.com. Sie sollte zugleich PHOENIX als Name “unseres” Spiels enthüllen. Es “unser Spiel” zu nennen kostet etwas Überwindung vor dem Hintergrund, dass wir uns als Erben einer Vision sehen, die vor 20 Jahren von anderen entwickelt wurde, als wir noch Kinder waren.

Wir glauben, dass wir es uns am Ende zugestehen können, so sehr wir die Idee verinnerlicht, sie weiterentwickelt und etwas neues und eigenes daraus gemacht haben.
Doch genug mit dem Träumen. Der Traum will propagiert werden. Ein neues Logo auf einer neuen Website, auf einer neuen Domain, die jeden Gothic Fan und jeden Gothic Entwickler unweigerlich an das alte gothicthegame.com erinnern musste - die Publisher Website von egmont interactive.

Diese Erleichterung, als ich Heilig Abend ca. 21 Uhr endlich fertig war… Noch ein Thread im Forum, ein Update auf Mastodon (kein Mensch schaut da rein, aber Hauptsache kein Twitter). Es war 22 Uhr. Den ganzen Tag hatte ich noch nichts gegessen. Das Update war wichtiger. Ich ging in die Stadt auf der Suche nach etwas zu essen, irgendein Laden musste ja offen sein. Alles zu… Nun, zumindest würde ich daheim ein paar Reaktionen auf unsere Geschenke lesen können. Die nähren auch, zumindest Motivation.
Da waren aber keine. Wer sollte auch an Heilig Abend in’s Forum sehen? Leerer Bauch, voller Kopf und ein gebrochenes Herz. Einsame Weihnacht.

Was auch immer: Der Traum von einem Spiel, da ist er. Mehr kann ich nicht tun.

Unsere Projektseite phoenixthegame.com

25.12.2020 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Doch, etwas kann ich noch tun. Schon Monate zuvor hatte man mich gedrängt, mich doch endlich mit THQ in Verbindung zu setzen, die jetzt die neuen Rechteinhaber von GOTHIC sind, auf dem PHOENIX basiert. Um über die Handhabe der Pre-Alpha Demos und anderem Material zu sprechen. Ich sagte jedes mal: Es ist noch nicht an der Zeit. Sie fragten sich, worauf ich wartete.

Ich wartete darauf, dass wir an einem Punkt ankommen würden, an dem ein solches Ersuchen irgendeinen Eindruck machen würde. Wir mussten anders auftreten. Wir mussten wissen, was wir wollen. Die Idee musste scharf sein wie die Klinge eines Schwertes, sonst dringt sie nicht durch. Anders gesagt: Die Vision musste klar sein und es musste anderen klar sein wie klar sie uns ist. Wir brauchten sowas wie einen Pitch. Oder zumindest eine Art Pitch für einen künftigen Pitch. Und das war die neue Projektseite.

Nun hatten wir alles zusammen: Ein langsam erwachsen gewordenes Archiv, das dank Martin Dietrich von der GameStar auch ein wenig Beachtung in der Presse gefunden hatte. Eine vernünftige Website für unser “Indie Studio” (phoenixtales.de) und die neue Website zum Spiel.
Das alles zusammennehmend, schrieb ich an den Verantwortlichen bei THQ. Und überraschenderweise eine Antwort. Noch am gleichen Tag. Und was für eine!

Ab und zu schaute ich ins Forum unter worldofgothic.de. Der Ort, an dem noch immer die älteste (noch existierende) Community um Gothic versammelt ist. Ich rechnete mit ein wenig Begeisterung. Nichts tat sich. Doch es sollte mich nicht kümmern. Die Devise bleibt das Opfer der Frucht, der Folge, die nicht in meiner Hand liegt; der Lohn liegt in der Tat allein, wie die Gita sagt. Aber die Antwort von THQ war eine süße Frucht. Ein kleines Weihnachtsgeschenk.

Und es kamen weitere Geschenke.

Ich will bei euch mitmachen

Neuer Eintrag im Tagebuch

Hin und wieder hatten Oliver aka logx und ich versucht, neue Mitglieder aktiv für unser Projekt zu gewinnen. Ohne Erfolg. Ich glaubte und erklärte immer wieder: Wenn uns jemand wirklich helfen will, dann würde er von sich aus kommen.

PhoenixTales Team Website

<poet-mode> Der Traum würde wie ein Funke wirken, der sein Herz entzündet, ihn langsam dafür brennen lassen, bis er sich darin verzehren würde. Man gibt etwas von sich in das Projekt. Manche etwas viel. Doch wir sterben alle. Überleben nur in dem Maß, in dem wir uns erschöpfen: Was wir behalten stirbt; was wir geben lebt weiter. </poet-mode>

Und aus solchem Opfer erhält ein Projekt seinen Wert: Blut, Schweiß und Tränen, die man in die Sache fließen lässt, machen die Sache so besonders. Ohne das ist es “nur irgend so ein Spiel”. Und jemand, der irgendwie nur eben mal Bescheid sagt, dass er uns vielleicht mit etwas helfen könnte? Das wird nichts. Die Motivation muss man selbst aufbringen, inspiriert durch die gemeinsame Vision, die Mike Hoge damals entwickelte und die Tom Putzki in die Welt trug.

Einige Monate zuvor hatte ich eine enthusiastische Mail aus Rumänien erhalten, von Dortman aka Arbax, der uns als Story-Writer unterstützen wollte und mittlerweile zu einem Freund wurde. Ein paar Wochen zuvor erreichte mich eine Mail aus den Niederlanden, von Adam aka Avallach, der in meinem Kopf eine Art berühmter polnischer Programmierer war. Wie Oliver sagte: “Sein klangvoller Nickname trägt das seine dazu bei.” Ich kenne niemanden, der die ZenGin, die alte Gothic Engine der Mad Scientists, so lange studiert hat wie er.

In der Nacht des ersten Weihnachtstages kam eine weitere Bewerbung von Jan aka Riisis, als 2D Artist. Er kümmert sich seitdem um die Texturen unserer Charaktere. Einen Tag später gleich noch eine von Fabian aka AmProsius, der erstmal die Fehler meines laienhaften Webdesigns ausbügeln durfte. Dazu kommt Jonas, unser Komponist.

Für das Projekt gibt es kein besseres Geschenk als diese Menschen, die uns helfen. Ihre Bewerbungen, die uns erreichten, sprühen vor Enthusiasmus und sprechen für sich:

“I have read more than one time the ideas and beautiful articles that you have posted and offered to the public […] I want to offer my help in the making of this beautiful project that you are working on as a writer/narrative helper or anything that could help the story process. To give a hand in the creation of this new era of how and what the Real World of Gothic should have been from the beginning.” (Arbax)

“Auch wenn ich selbst im Forum in Eurem Thread bisher nicht wirklich viel geschrieben habe, habe ich jede Information, die Ihr veröffentlicht habt, aufgesogen wie ein Schwamm. […] Bitte gebt mir die Chance zu beweisen, dass ich würdig bin Euch zu helfen, ich wäre mit Herzblut bei der Sache.” (Riisis)

Das waren die Leute, die wir brauchten. Phoenix ist ein nicht-kommerzielles Projekt. Seine Realisierung verlangt, dass Leute ihre Freizeit dafür opfern; tut man aber nur, wenn man für die Sache brennt. Solche Menschen kommen von allein, wenn man nur dafür sorgt, dass der Traum hell genug strahlt. Tut er das, dann fliegt man hin, wie eine Motte, die das Licht sucht.

Schatten der Nacht

Ich wusste, sie würden verlässlich sein und sich aktiv einbringen. Ohne durch ihr Wirken mehr auf den Kopf zu stellen und mehr Probleme zu schaffen als zu lösen. Ohne ihre eigenen Ideen so sehr erzwingen zu wollen, dass sie das große Ganze zerstören, das zu überblicken eine ganze Weile dauert, weil das Projekt und die Geschichte so komplex sind.

Sie haben uns nicht enttäuscht. So wurde Phoenix Tales zu einem Team von Menschen, die mit Leidenschaft da weiter entwickeln, wo das alte Piranha Bytes 2001 aufgehört hatte.

“Welcome to the Phoenix nest!” (logx)

Die Vision der Alpha

Neuer Eintrag im Tagebuch

Am Anfang steht immer eine gewisse Begeisterung für die Projektidee. Doch je mehr jemand in unseren Plot involviert wurde, je mehr er erfasst hat von dem, was wir im Begriff sind zu tun, desto begeisterter wurde er, desto mehr verinnerlichte er “unsere” Vision als seine eigene.
Es ist ein seltsames Gefühl, wenn Menschen plötzlich über deine Ideen sprechen und sie so verinnerlicht haben, dass du nichts mehr dazu sagen musst; andere können sie ebenso repräsentieren wie du. Die Ideen hören auf, deine eigenen zu sein.

Gothic Werbekarte

Wenn ich hier von ‘unserer’ Vision spreche, dann zum einen, weil wir die von den geistigen Vätern von GOTHIC entwickelte Vision so sehr verinnerlicht, sie uns angeeignet, zum anderen, weil wir sie kreativ weiterentwickelt haben, die Geschichte sowohl wie die Designprinzipien dahinter.

Wir stehen auf den Schultern des alten Piranha Bytes. Sie haben nicht nur ein Spiel gemacht. Sie haben jahrelang ein geniales Setting entwickelt und nur einen Bruchteil davon im Spiel umgesetzt. PHOENIX ist also eine Mischung aus dem, was sie sich damals überlegt und dem, was wir uns davon erträumt haben. Ohne sie gäbe es nichts davon. Und sollten wir manchmal etwas übermütig erscheinen, dann weil wir so begeistert und ergriffen sind von der Idee.

Oliver und ich haben etwa zwei Jahre lang versucht, uns einen Reim darauf zu machen, wie die Geschichte ursprünglich gewesen sein könnte und wie sie unserer Ansicht nach sein sollte. So haben wir einen Plot entwickelt, der alles enthält, was PB zu irgendeinem Zeitpunkt im Sinn hatte und es zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt. Für unser Sequel haben wir dann all die vielen Storystränge aufgegriffen, alles miteinander verknüpft; die Plot Twists fielen uns nach und nach in die Hände und alles ergab sich langsam in einem Mosaik, über das wir selber staunen. Und so ging es auch den anderen:

“This might sound a little weird but the more I read about the story and how it progresses, the bigger and more detailed it gets, it feels like a story with such a big potential, like a Greek or Sumerian myth with intrigue and so much plot development.” (Arbax)

Fabian fragte ich, wie er auf das Projekt gekommen sei.
Die Antwort war bezeichnend: Er hatte schon zuvor von unseren Projekten gehört und sie mit der Rekonstruktion der Alpha in Verbindung gebracht, doch sah er nicht, was daran so reizvoll sein sollte, “eine alte Version eines Spiels wiederherzustellen”. Was er nicht wusste ist, was diese Vision, die wir unter dem Begriff der “Alpha” zusammenfassen, an unerschöpftem Potential enthält, dass es um viel mehr geht als “etwas altes wiederherzustellen”. Wir sind keine traditionalistischen Reaktionäre. Wir sind Revolutionäre im Oldschool Gewand.

Er dachte, die Entwickler werden schon einen Grund gehabt haben, warum sie Dinge am Ende anders gemacht haben. Hatten sie auch. Gute Gründe. Sonst wäre das Spiel vielleicht nie erschienen. Mike hat den Release damals gerettet, mehr dazu in unserem kommenden Interview.

Aber so gut ihre Gründe auch waren und so froh wir sein sollten, dass diese Entscheidungen getroffen wurden, so sehr wünschen sich viele, die die ersten Ankündigungen gelesen, die ersten Veröffentlichungen gesehen haben, dass doch etwas mehr von dem enthalten wäre, was ursprünglich angekündigt war. Ganze Teile der Geschichte und Features wurden nur aus Zeitmangel nicht realisiert, andere aus technischen Gründen verworfen. Die meisten wissen nichts mehr von den einst geplanten Story Events, von den vier Klassen mit ihren vier Spielstilen, von der Immersion durch Visualisierung, wie sie so radikal noch kein Spiel je realisiert hatte…
All das war offensichtlich auch an jenen vorbeigegangen, die selbst Gothic Fans sind und noch heute Teil der Community auf World of Gothic. Mit unserem Gothic Archiv haben wir versucht, zumindest ein wenig dazu beizutragen, etwas daran zu verändern.

Das Gothic Archiv

Dieses potentielle Spiel, wie es in den frühen Ideen zum Ausdruck kommt, übt eine unheimliche Faszination aus. Wir sind von dem ursprünglichen Potential mindestens so begeistert wie von dem Spiel, wie es heute vor 20 Jahren erschien.

“Wir wollten das Spiel machen, das irgendwie alles kann.” (Mike im Interview)

Mit GOTHIC ist es ganz ähnlich wie mit STALKER: Auch hier wurde zuerst eine Vision präsentiert, die dann so nie das Licht der Welt erblickt hat. Auch hier hatte man zu viel gewollt. Und auch hier arbeiten Fans noch heute daran, all das umzusetzen, was damals aus diversen Gründen doch nichts wurde, siehe Oblivion Lost. Kaum ein Spiel hat soviel gemein mit GOTHIC, der Atmosphäre, dem Artdesign, dem Setting.

STALKER - Oblivion Lost Remake

GOTHIC (erster Arbeitstitel ORPHEUS, später PHOENIX) spielt im Königreich Myrtana, in einer Gefängniskolonie, - inspiriert von Escape from New York. Die Orks sind vor dem Rassenhass der Menschen in den Untergrund geflohen und haben sich unterirdische Städte erbaut. Eine dieser Orkstädte liegt in der Kolonie von Khorinis. Aus ganz Myrtana werden Sträflinge in die Minenkolonie gebracht, um dort Erz für den Krieg zu fördern. Das Reich ist im Krieg mit den Orks. Um jede Flucht unmöglich zu machen und den Nachschub an magischem Erz zu sichern, das im Tal von Khorinis abgebaut wird und kriegsentscheidend sein soll, lässt der König von seinen Magiern eine magische Barriere um das Tal errichten. Doch statt totaler Kontrolle schaffen sie Chaos. Als das Ritual schief geht und die Magier mit einschließt, bricht im Gefängnis eine Revolte aus. Die Gefangenen töten die Wärter und bringen das Gefängnis unter ihre Kontrolle. Es entsteht ein Lager um die ehemalige Gefängnisfestung im Zentrum des Tals und eine neue Machtstruktur.

Die Erschaffung der magischen Barriere

Unterdrückt von den Stärksten, die sich in der Revolte durchgesetzt haben, den “Erzbaronen” und ihrer Garde, die die Uniformen der ehemaligen Wärter übernimmt, werden die ‘Buddler’ zur Arbeit in den Minen gezwungen, um dem König weiterhin Erz zu liefern, der im Gegenzug die Forderungen der Barone erfüllt. Schon bald spaltet sich das alte Lager und ein neues Lager entsteht, in dem all jene Zuflucht suchen, die der Herrschaft der Erzbarone entkommen wollen. Sie erschließen eine eigene Mine und arbeiten an einem Ausbruchsplan.

Die Visionen eines Buddlers lassen ein drittes Lager im Sumpf entstehen: Eine Bruderschaft, die den alten Göttern abgeschworen hat und nun den ‘Schläfer’ anbetet, ein Wesen das, wie sie glauben, wenn es erwacht, sie aus dem Gefängnis befreien wird. So arbeiten sie unermüdlich an seiner Erweckung.

Der Spieler wird in dieses Gefängnis geworfen. Er kann sich aussuchen, welcher Fraktion er sich anschließt und welchen Weg er einschlägt (Krieger, Magier, Dieb oder Psioniker), um das Spielziel zu erreichen: Freiheit.

GOTHIC hatte ein geniales Setting und war damals und ist heute noch revolutionär. Doch viel mehr noch ist es die ihm zugrundeliegende Vision, die wir grob als ‘die Alpha’ charakterisieren.

Die Monolith-Fraktion

Ebenso mit STALKER: In der sogenannten “Zone” in Chernobyl, kämpfen verschiedene Fraktionen um die Vorherrschaft. In ihrem Zentrum steht der Sarkophagus, stark bewacht von den Monolith, einer fanatischen Sekte um den von ihnen verehrten Monolithen; doch sind sie selbst Opfer des C-Consciousness, einem Über-Bewusstsein, das sie kontrolliert, eben wie die Sekte in GOTHIC, die unter dem Einfluss des Schläfers steht.
In der Zone treiben sich wegen der radioaktiven Strahlung überall mächtige Mutanten herum; in der Kolonie sind es die Monster, die durch das magische Erz mutieren.

Viele derer, die ich kenne, die von der frühen Vision von Gothic begeistert sind, haben auch viel Zeit in der Zone verbracht. Es dürfte keinen mehr wundern warum. ;)

“STALKER 1 habe ich geliebt!” (Mike im Interview)

Von solchen Zusammenhängen wissen die meisten Spieler aber nichts (mehr), weil das die Dinge sind, die es nicht ins Spiel geschafft haben. Die Dinge, die wir zurückbringen wollen.

Ob es auch anderen ging wie Fabian? Wie viele hatten unser Projekt übersehen, weil sie es missverstanden hatten? Die Präsentation war offensichtlich wichtig. Erst die neue Website und die Designphilosophie, die Oliver und ich erarbeitet hatten, haben ihn überzeugt.

Ich verwehre mich gegen den Vorwurf, dem fertigen Spiel Unrecht zu tun, indem ich das so sehr betone, was am Ende gar nicht drin war. Denn gerade dies nicht zu betonen, hieße Gothic Unrecht tun. Es hieße den größten Teil der Leidenschaft übersehen, die in das Projekt geflossen ist. Es hieße die Tiefgründigkeit übersehen, die im Design angelegt war, aber im Spiel nicht zum Ausdruck kommen konnte.
Indem ich darauf meinen Fokus lege, zeige ich, dass GOTHIC so viel mehr war, als das, als was es sich final präsentiert hat. Das nicht zu betonen hieße, Gothic reduzieren auf das wenige, was an der Oberfläche übrig blieb. Es mag sein, dass ein Teil der Community damit voll zufrieden ist. Wir sind es nicht. Wir wollen dem Spiel dazu verhelfen, die gewünschte Tiefe zurückzugewinnen, die es im Sprint zum Goldmaster über Bord werfen musste. Darum tauchen wir in dieses Meer der Alpha ein, um ihre Schätze heraufzuholen.

Viva la (Re)Vision!

Besuch von Mike

30.12.2020 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Oliver hatte mich erst überredet, mir im Rahmen des Projekts wieder Discord zuzulegen, um die Arbeit darüber zu organisieren. Die letzten Monate hatte ich sie per Signal und Mail organisiert und Discord abgelehnt (prinzipielle Privacy-Erwägungen, was meist allein schon daran scheitert, dass die Kontakte nicht einmal ihre Emails verschlüsseln wollen…).

Nun hatten wir all diese neuen Team Mitglieder. Discord war hilfreich, meine Sturheit nicht so. Oliver hatte Recht. Manchmal muss er sich etwas Mühe geben, mich erst widerwillig zu einer Entscheidung zu bewegen, die auch ich hinterher richtig finde.
Ich dachte, wenn ich auch eine freie Alternative vorziehen würde, so kann ich doch mit Discord leben und es im Rahmen des Projekts nutzen, solange es keine bessere gibt. Und da im Forum immer noch nichts los war und die Arbeit über Discord so gut lief, schlug ich sogar selbst vor, einen öffentlichen Channel zu eröffnen.
“Bin nicht prinzipiell dagegen”, hieß es. Gesagt getan.

Wir haben uns länger gefragt, wo die ganzen Leute wären, die noch immer von der alten Vision von Gothic träumen. Wir hatten den Eindruck, es gäbe in der deutschen Community fast niemanden, der sich noch für die radikalen Ideen “der” Alpha interessiert. Hier kamen sie plötzlich alle zusammen. Nicht viele. Aber ein harter Kern an Interessierten. Ein paar Leute gar, die sich aufgrund unserer Updates als ‘Fans’ des Projekts bezeichneten. Mehr konnte ich mir für diesen frühen Status der Entwicklung nicht erhoffen. Zumal wir noch keine Pressearbeit machten.

Mike Hoge

Einen Tag nach Eröffnung des Channels gab es ein weiteres Geschenk: Mike Hoge, der geistige Vater von GOTHIC, gesellte sich im Channel zu uns. Sein Nickname: Adanos (einer der Götter im GOTHIC Universum).

Die Tage zuvor hatte ich noch mit Oliver diskutiert. Sollten wir das Projekt wirklich PHOENIX nennen? Er hatte unseren Arbeitstitel NYX lieb gewonnen. Ich auch. Ich hatte ihn vor etwa zwei Jahren gewählt, ein Logo dazu entworfen - das wir noch immer als Symbol verwenden. Und ich wollte gerade die Domain nyxthegame.com besorgen, als ich sah, dass es darunter schon ein Spiel des selben Namens gab. ‘Zufällig’ heißt es:

‘Nyx - The Awakening’. Ihr Promotion-Text sagt:

Welcome to the nightmare. You find yourself in a North American town in the ‘80s — NYX, the ancient goddess of night, has captured yet another mortal soul to play her torturous mind games. […]
NYX: The Awakening is a blast of 80’s retro nostalgia — immerse yourself in the music, the world and discover all the tributes to pop-culture classics of that neon decade!

Was auch immer das wird: Props an die Entwickler. ;)
Ich musste was anderes finden und phoenixthegame war verfügbar. Nach Veröffentlichung des ersten Gothic Pitches von Mike, der noch den Arbeitstitel Phoenix trug und der Verfügbarkeit der Domain als weiterem Zeichen, war mir klar, dass das die richtige Entscheidung war. Den ersten Entwurf unseres Phoenix Logos, das auf dem alten Gothic Logo basiert, erstellte ich mit GIMP während eines langweiligen Unterrichts in der Schule.

Ich war mir sicher, dass wir unter diesem Namen viel eher auch die Aufmerksamkeit der Gründer und anderer ehemaliger Entwickler von GOTHIC auf uns ziehen könnten.

Tom Putzki hatte sich schon nach Veröffentlichung der Version 0.5 unseres Archivs an uns gewandt, um Material beizutragen. Noch immer haben sie also zumindest peripheres Interesse an ihrem alten Baby. Gothic lebt. Auch noch nach 20 Jahren.

Ich ergriff die Gelegenheit und stellte Mike kurz Phoenix Tales, unser Gothic Archiv und das Projekt vor. Seit Mike in einem Livestream mit KaiRo (Kai Rosenkranz, der Komponist der Musik von GOTHIC) ein paar Einblicke in seine alten Design-Dokumente zu Gothic gegeben hatte, die er in dicken Ordnern aufbewahrt, hatte man auf verschiedenen Wegen vergeblich versucht, ihn um eine Digitalisierung dieser Konzepte zu bemühen. Er stand dem zwar offen gegebenüber, doch hat er der Zeit zu wenig und der Docs zu viel. Er selbst konnte das nicht tun. Also bot ich an, sie zum 20. Jubiläum von GOTHIC für ihn zu digitalisieren. Und er ging darauf ein.

Ich würde ihn nächsten Monat besuchen und seine Designkonzepte für die Nachwelt retten: Als Teil der Spielegeschichte für unser Archiv, als Entwürfe von unschätzbarem Wert für unser Spiel und als ein Geschenk für die Community.

31.12.2020 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Im letzten Jahr ist viel passiert. Der Fund der beiden Pre-Alpha Versionen, der Vertical Slice (0.56c) und die Presse Demo 0.64b. Viele der letzten geheimnisumwobenen Details der alten Story konnten gemeinsam gelöst werden (Mike würde sie mir später größtenteils bestätigen).

Und nun, am letzten Tag des Jahres, gelang es in unserem neuen Channel, im Schmelztiegel der Freaks, den originalen Gothic Multiplayer in der Pre-Alpha Demo 0.56c zum Laufen zu kriegen.

Das Multiplayer Experiment

Nach über 20 Jahren verbanden sich zwei Spieler im LAN per Hamachi und liefen zusammen durch das alte Testlevel. Sie waren außer sich. Wer würde diese Begeisterung verstehen? Da saßen sie, etwa ein halbes dutzend Typen, verbunden durch Gothic, in Deutschland, in Polen, in Österreich, in Russland, in Tschechien und der Ukraine, und freuten sich wie kleine Kinder über das geglückte Experiment.
Gothic begeistert. Auch noch nach 20 Jahren.

Besuch bei Mike

Neuer Eintrag im Tagebuch

01.01.2021 - Ein Termin mit Mike Hoge… Das ist eine große Sache, wenn du deine Freizeit einem 20 Jahre alten Spiel widmest, das eben der entworfen hat. Und die ersten Entwürfe davon befinden sich in eben jenen Ordnern! Sie uns anzuvertrauen ist ein großes Geschenk. Also schlug ich vor, sollten auch wir Mike was schenken.

29.01.2021 - Heute soll das Treffen stattfinden.
11 Uhr. Die Reise beginnt und ich hatte zu viel Kaffee. Strukturiere die Fragen für Mike mit zitternden Händen - da sind sie wieder. Ich bin das Koffein nicht gewöhnt.

15 Uhr. Ich bin ein wenig nervös. Aber immerhin mein Thinkpad ist vorbereitet.

Der Rhein Die Reise führt mich vorbei an den Weinbergen, Burgen und Schlössern am goldenen Rhein.

Es kam eine Durchsage: “Wir halten heute NICHT in Essen! Ich wiederhole: Wir halten heute NICHT in Essen!” 5 Sekunden später: “Wir halten heute DOCH in Essen!” Glück gehabt. Alles wird gut.

30.01.2021 - Mike Meeting
Gestern um 16:30 kam ich in Bochum an. Um 17 Uhr stand ich bei Mike vor der Tür. Ich hatte Zeit bis 21:30. Dann musste ich meinen Zug zurück kriegen.

Es war zunächst ein wenig surreal, bei Mike Hoge im Wohnzimmer zu sitzen und ihn auf und ab laufen zu sehen, während er mit Sascha Henrichs telefonierte. Er zeigte mir sein Regal, in das er all das Zeug zu Gothic getan hatte, das er bei seinen Umzugsvorbereitungen finden konnte. Nicht so viel wie mancher vielleicht denken würde. Keine einzige Edition von Gothic 3 hat er. Nur mit Schmerz erinnert er sich an das Projekt zurück. Keine einzige Pappschachtel von Gothic 1, nur die CDs. Auf dem Regal lag ein Poster zu Risen. “Das interessiert keinen, werf’ ich weg.”
Er ist offensichtlich kein Sammler, so wenig wie ich.

Aber wegen solcher physischer Goodies war ich ja auch nicht gekommen, sondern wegen der Designs. Nach und nach trugen wir die drei Ordner und einige CDs zum Tisch. Dann gingen wir eines nach dem anderen durch, um zu entscheiden, was ich mitnehmen würde und was nicht.

Wie gesagt hatte ich Mike im Angesicht des Umstandes, diese wertvollen Geschenke zu erhalten, auch selbst welche mitgebracht. Avallach hatte vorgeschlagen, ihm ein Schwert zu schmieden. Man stelle sich vor ich wäre da mit Uriziel aufgekreuzt. Das wäre ein Geschenk gewesen… Aber wir haben des Geldes zu wenig und der Ideen zu viel. ;)

Unsere Geschenke für Mike

Stattdessen brachte ich ihm eine Kopie der jüngsten Version unseres Gothic Archivs mit, die beiden Pre-Alpha Demos, die vor nicht allzu langer Zeit gerettet wurden - über die hat er sich sehr gefreut -, und die Demo einer anderen von der Alpha inspirierten Modifikation aus der Ukraine, die Mike zu schenken der Ersteller mich gebeten hatte.

Nachdem wir geklärt hatten was er mir mitgeben würde, initiierte ich ein kleines, amateurhaftes Interview mit unseren Fragen und denen aus der Community, die ich vorbereitet hatte. Nunja, so klein war es nicht. Es ging um die 80 Minuten und es abzutippen dauerte vermutlich doppelt so lang. Einige Stellen ließen wir aus. Es soll um Gothic gehen, nicht um vergangene Konflikte.

Nicht alle Fragen konnten wir lösen. Manche habe ich vergessen zu stellen, manche konnte er nicht beantworten, für manche war keine Zeit mehr - und manche hätte ich vielleicht besser auslassen sollen - sorry Mike, immer diese Freaks.. ;) Zudem kündigte er an, am Abend noch Besuch zu kriegen, so dass ich mich mit den Fragen beeilt habe.

Der Besuch waren zwei Freunde, etwa in meinem Alter. Sie trafen sich zum Kartenspielen mit Mike. Das Spiel heißt “Tichu”. Angeblich kommt es aus China, laut Mike nur ein Marketing-Gag. Man kann es nur zu viert spielen, also spielte ich mit.

Der Phoenix in Tichu

Mike erklärte mir die Regeln. Es schien sehr komplex zu sein und ich kann nicht behaupten, es verstanden zu haben. Erst beim Spielen wurde es langsam klar. Jedenfalls gibt es einen Hund, einen Drachen und… einen Phoenix! Auch Nexus genannt. Ich werde nicht versuchen, euch zu erklären was er macht; dürft ihr selbst rausfinden (oder es versuchen). Ich hatte ihn einmal und verschwendete ihn, während Mike eine “Bombe” nach der anderen droppte. Dabei hörten wir Billy Talent. Ich war in einem Team mit Mike und wir gewannen. Aber Mike spielt es auch schon seit… Na? Seit 20 Jahren.

Soviel Persönliches soll erlaubt sein: Mike ist cool, das Gegenteil von abgehoben. Er ist authentisch und direkt und hat es mir leicht gemacht, mich wohlzufühlen und nicht zu aufgeregt zu sein. Er versorgte mich mit genügend Kaffee, um die lange Rückfahrt zu überstehen, die mir bevorstand. Und damit ich die Ordner nicht eine halbe Stunde lang zum Bahnhof tragen musste, brachte er mich hin.

Man hatte mich extra gebeten, ein Foto mit ihm zu machen. Ich habe es vergessen… sorry. Vielleicht beim nächsten mal.

Um 22 Uhr ging die Reise zurück.
Oliver schrieb:

New Diary Entry:
Meet Mike, the Mastermind +10,000 EXP

In Hagen musste ich auf einen Zug warten, der 80 Minuten Verspätung hatte…
Es wurde kalt und ich nutzte die Gelegenheit für ein paar Handstände um Mitternacht.

Ein wackliger Handstand auf dem Bahnhof

Seit Corona liegt die Akrobatik auf Eis. Der Zirkus, der Sport - am Boden, all die Shows, die World Championship - abgesagt, die Träume vieler Akrobaten - zerstört. Eben wie mein Traum… Ein Schock in der Dunkelheit. Ein Tempel in Ruinen. Aber das Feuer brennt noch. Und solange es brennt, kann der Phoenix wiederauferstehen. Wie der gothicsche Phoenix.

Als ich endlich im Zug war, sah ich mir die Dokumente an und konnte der Community vom Treffen erzählen. Mit kalten, zittrigen Händen packte ich die Ordner aus und nahm zum ersten mal die Schätze in den Blick, die ich bei mir hatte.

Die Design Konzepte

31.01.2021 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Man munkelt, dass Piranha Bytes diese alten Ordner in den Müll werfen wollte. Altlast sozusagen. Mike verhinderte das, Adanos sei Dank. Jetzt sind sie bei mir und ich werde dafür Sorge tragen, dass sie nicht verloren gehen.

Als Kritzeleien eines verrückten Game Designers hat Mike sie mir gegenüber bezeichnet. Der Mann ist demütig. Doch für uns sind sie das letzte Puzzle unserer jahrelangen Nachforschungen, “Alpha Research”, wie wir es nennen. Außerdem enthalten sie alte Level- und Charakterentwürfe, die noch niemand zu Gesicht bekommen hat. Wir werden sie im Spiel umsetzen.

Ein Konzept für den Snapper von Vadim

Auf fast 400 Seiten hat Mike hier seine Ideen zum Spiel niedergeschrieben, skizziert und gezeichnet. Es war noch einiges mehr, doch vieles ging über die Jahre verloren. Dazu kommen um die 150 Konzeptzeichnungen von Ralf, manche davon noch nie veröffentlicht (z.B. zum Tempel des Schläfers) und einige Artworks von Vadim, der die Monster entworfen hat. Im dritten Ordner ist eine ganze Gothic Novelle, in der ein Freund der Entwickler eine von den frühen Designs inspirierte Story auf 159 DIN A4 Seiten geschrieben hat.

Doch ich will an dieser Stelle nicht weiter auf den Inhalt der Dokumente eingehen. Am Ende dieses Essays könnt ihr euch unsere erste Veröffentlichung daraus selbst ansehen. :)

Auf der Rückfahrt stieg ich vier mal um und musste die ganze Nacht wach bleiben. Nicht nur weil die Rückfahrt die ganze Nacht dauerte, ich musste mich natürlich auch vor den Banditen in Acht nehmen, die es vielleicht auf die Artefakte abgesehen haben könnten.

Das Warten auf den Zug

“I am still very alarmed though, watching out for bandits.
Quentin is always lurking around the corner.“ [04:38 AM]

Vor etwa 19 Jahren habe ich meinen Cousin das erste mal Gothic spielen sehen. Fun fact: Derselbe Cousin, der damals Gothic spielte, mir Computerspielen an sich näherbrachte, - Gothic sowohl als auch Max Payne, Alice und Stalker und so die meisten Titel, die mich und darüber unser Projekt beeinflussen - gab mir nun seinen Scanner zur Digitalisierung der Design-Dokumente.

Die Design-Ordner

Seltsam, wie eines zum anderen führt. Hätte ich ihn nicht vor 20 Jahren dieses Spiel spielen sehen, hätte ich es nie gespielt. Hätte Issues sich nicht mit der Alpha befasst und an seiner Anniversary Edition gearbeitet (damals noch zum 15. Jubiläum), wäre ich nie auf die Idee gekommen, so ein Projekt zu beginnen, auch Phoenix Tales und das Archiv wären nie entstanden. Das wiederum wäre nicht so groß wie es ist, wäre da nicht die jahrelange Detailarbeit von odin68 in seiner Chronologie.
Hinwiederum wüssten wir nicht halb so viel über den Cut Content, den wir in Phoenix wiederherstellen, - und der unsere Vision noch konsequenterer Immersion durch Visualisierung inspiriert hat, die wir alle selbst erst verdauen mussten, bevor wir überzeugt waren, dass wir es wirklich so machen wollen - wie wir heute wissen, hätten sich Dmitriy, Vaana und andere nicht so um die Alpha Versionen bemüht.
Mein Design inspirierte wiederum Oliver und andere, die es seitdem mit gestalten. Hätte er mich nicht dazu gedrängt, Discord wieder zu nutzen, hätte ich auch das nicht getan. Mike wäre nicht in den Channel gekommen, wäre er nicht im richtigen Moment darauf aufmerksam gemacht worden.

So führten all diese kleinen Ereignisse und der Einfluss zahlreicher Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt zu diesem Moment: Dass wir nun diese Dokumente in den Händen halten. Ein Netz aus Einflüssen, zu komplex um sie alle nachzuvollziehen. Ein Dank an Mike und ein Dank an alle, deren wechselseitiger Einfluss das ermöglicht hat.

Um 22 Uhr hatte die Rückfahrt begonnen. Um 8 Uhr am nächsten Morgen war ich daheim. Als ich in meiner Heimatstadt ankam, war es schon wieder hell.

Der Himmel um 8 Uhr daheim

Ein seltsames Gefühl, so leicht gegangen zu sein und so schwer zurückzukommen. Zu Anfang schrieb ich, dass ich 10 Kilogramm verloren habe. Daheim habe ich das Material gewogen. Die Tasche wog 10 kg… Hier habe ich sie wieder.

Süßer Schlaf, bittere Träume… Gothic lebt zwar, aber schläft. An seinem Grund, wo alles anfing: Die Vision. Unser Reboot wird sie aufwecken: Phoenix ist ein Wiedererwachen dieser alten Vision. Von damals, als Gothic noch ein wenig anders war. Es lebe Gothic zum 20. Jubiläum.


Die Digitalisierung

01.02.2021 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Mit Hilfe von Avallach habe ich mehrere Stunden versucht den scheiß Scanner unter Linux zum Laufen zu kriegen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ich versuchen sollte, Windows XP auf meinem X220 zu installieren. Aber auch das hat nicht funktioniert. Auf das Bios wurde (vom Vorbesitzer) Coreboot geflasht, um die proprietäre Firmware loszuwerden. Und Coreboot wollte Windows natürlich nicht booten. Recht hat es.

02.02.2021 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Endlich habe ich eine Lösung gefunden: Ich scanne mit dem Smartphone. No Windows needed. So erblicken die Designdokumente das erste mal das Licht der digitalen Welt auf Graphene.

Die Scan-Software ist seltsam. Gescannte Dokumente werden zunächst nur intern, in der App gespeichert; dann kann man sie freigeben und verschicken. Der Prozess sieht also so aus: Vom Smartphone aus weise ich den Scanner an, die Dokumente zu scannen. Eine Seite nach der anderen. Dann schicke ich sie zu Signal. Durch Signal-Desktop landen sie dann auf meinem Computer und so im Archiv. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht…</p>

Digitalisierung

18.02.2021 - Neuer Eintrag im Tagebuch

Ich habe die Dokumente in der besten Qualität gescannt, die mir zur Verfügung stand, trotzdem musste ich jede einzelne Seite händisch nachbearbeiten, etwa um die Löcher zu überdecken, in denen die Seiten eingeheftet waren oder den Kontrast von stark verblassten Seiten anzupassen.

Erster Logo Entwurf

Da die Dokumente kaum geordnet waren, musste ich eine Struktur entwickeln. Aufwendigere Konzeptzeichnungen habe ich von einfachen Skizzen getrennt. Und manches Kleinod auf Seiten voller Gekritzel, die Mike nur ungern veröffentlicht wissen will, habe ich ausgeschnitten, um es doch veröffentlichen zu können. Darunter z.B. dieser erste Entwurf des Logos.

Ein wenig Ordnung war in dem Ordner mit den Aufzeichnungen durch gelbe, beschriftete Streifen gegeben. Auch die habe ich gescannt, um Deckblätter für meine Struktur daraus zu machen. Es war mein Ziel, dem Design Rechnung zu tragen und es halbwegs ansprechend zu präsentieren. Ich hoffe, das ist mir gelungen und ich hoffe, es bereitet einigen Menschen etwas Freude. Unser Gothic Archiv wird damit um etwa 1 GB wachsen.

03.02.2021 - Neuer Eintrag im Tagebuch

8 Uhr. Ich hätte eine Klausur schreiben sollen. Gelernt hatte ich natürlich nichts. Ich überlegte, ob ich hingehen sollte, könnte auf der Fahrt im Zug die Zusammenfassung von irgendwem lesen. Wird schon ausreichen, dachte ich. Aber angekommen an der Bushaltestelle merkte ich, dass ich meinen Geldbeutel vergessen hatte. Also doch wieder zurück.

Tom Putzki

Jetzt wäre ich sowieso zu spät gekommen und brauchte nicht mehr hinzugehen. Ich wollte also den Tag nutzen, um weitere Dokumente zu scannen, als plötzlich auch Tom Putzki in unseren Channel kam. So kamen wir wieder in Kontakt.

Achja: Tom nutzt Signal und du hast es immernoch nicht! Es wird Zeit, den alten Göttern abzuschwören, fuck facebook, WhatsApp and the like. Der Schläfer Security-Titan wird sie vernichten und uns die Freiheit bringen! ;)

Jedenfalls konnte ich so ein weiteres Interview mit ihm für das Jubiläum organisieren und er ließ uns weiteres Material für das Archiv zukommen. Ich war selten so froh darüber, meinen Geldbeutel vergessen zu haben.

Nun sind nicht nur Gothic Alpha Fans aus aller Welt, sondern auch immer mehr Gothic Entwickler in unserem Channel versammelt. Wir hoffen, dass es noch ein paar mehr werden, wenn auch nicht alle dem Spiel noch so verbunden sind wie Mike und Tom. Doch die Motivation, über die ich mich an Weihnachten gefreut hätte - hier ist sie. Ein Dank an all unsere Supporter, die uns im Channel motivieren.

Was wir hier tun

Gothic entstand unter der Prämisse, dass das Design der Spiele jener Zeit grundlegende Probleme habe, die man lösen wollte. Man wollte sich nicht einfach nur einreihen in das Erfolgskonzept anderer Spiele ihrer Zeit (wenn es auch im Hinblick auf Spielmechaniken viele Inspirationen gab), sondern abweichen. Weil man von den eigenen Ideen überzeugt war, die man an anderer Stelle nicht fand. Ihre Vision war getrieben nicht nur von der Idee, etwas eigenes zu tun, sondern etwas anders zu tun. Der Grundsatz war: Other games suck, we make our own.

Ebenso ist unsere Arbeit an Phoenix motiviert durch die beiden Umstände, dass zum einen Gothic selbst nicht verwirklichen konnte, was es zuvor versprochen hatte und dass zum anderen, nunmehr seit 20 Jahren, noch immer kein anderes Spiel etwas geboten hätte, was der ursprünglichen Vision von Gothic mit ihrer radikalen Immersion auch nur ansatzweise gleichgekommen wäre. Ich hätte nie mit dem Projekt begonnen, wenn es vergleichbares gäbe, wenn es nicht Not tun würde, dass es jemand unternimmt.
Wir machen uns die Arbeit, weil es sonst keiner tut.

“Rettung des Designs”. Meint der Titel die Rettung der Design-Dokumente? Meint er die Rettung einer Vision von einem Spiel, wie es einst konzipiert war? Oder - ganz vermessen - die Rettung des Gamedesigns an sich?

Spiele werden heute wie am Fließband produziert. Die meisten sind nicht mehr der Rede wert. Sie sind beliebiger, bedeutungsloser Zeitvertreib, ohne Liebe zum Detail. Wir versuchen dagegen ein Drama mit Bedeutung zu erzählen, mit tiefgründigen Implikationen. Wir wollen ein Spiel machen, das über sich hinaus weist. Kunst entsteht nicht in Fabriken; man kann sie nicht industrialisieren, sie wird nicht in der sogenannten “Spieleindustrie” produziert. Die ist voller Künstler, zweifellos, deren Kunst wird aber beständig durch den industriellen Kontext korrumpiert: Zeitdruck, Marktforschung, Monetarisierung etc.

Wo es hier Kunst gibt, da gibt es sie nicht wegen der industriellen Zusammenhänge, in der sie entsteht, sondern trotz ihnen. Und die wertvollsten Spiele der letzten 20 Jahre, die liebevollsten, detailliertesten und kompromisslosesten, wurden nicht in den großen Spielefabriken gefertigt, sondern in kleinen Manufakturen, in Indie-Studios, zuweilen von Einzelpersonen. Hierhin hat sich, meiner Ansicht nach, das Zentrum der Kunst verschoben.
Es verschiebt sich dahin, wo man Kunst einen Raum gibt.

Total Chaos Hellblade

Total Chaos, Dusk, diverse STALKER Mods, sie definieren Atmosphäre und Artdesign. Titel wie Fran Bow und Hellblade erzählen Geschichten mit Bedeutung - und helfen Menschen.

In diesen Werken ist im Vergleich nicht so viel Geld im Spiel, aber umso mehr Gehalt, kunstvolle Substanz. Es mag Fälle geben, in denen beides zusammen kommt. Die sind die Ausnahme, nicht die Regel. In GOTHIC ist dieses Potential zum Kunstwerk angelegt. Vielleicht sind sie sich selbst nicht ganz gerecht geworden. Aber sie haben etwas geschaffen, das zeitlos ist. Die vier Gründer, die für GOTHIC verantwortlich zeichnen, waren Idealisten. Und das ist heute noch zu spüren.

In der Spieleindustrie, ebenso wie in der Filmindustrie, werden Milliarden in anspruchslosen Blockbustern verschwendet, nur damit dann ein Projekt wie Joker (gespielt von Mr. Phoenix ;)) um die Ecke kommt, um riesige Gewinne mit vergleichsweise winzigem Budget zu machen. Kann sich ja keiner denken, dass es einen Markt für was mit Anspruch gibt.

Joaquin Phoenix as JOKER

Kein Projekt wird das Gamedesign retten, an dem wir uns stören, dazu müsste man etwas an den ökonomischen Bedingungen ändern, unter denen es entsteht; während wir jenseits davon stehen, jenseits des Marktes, indem wir das Spiel nicht verkaufen, sondern es verschenken. Wohl aber kann es uns gelingen, ein Gamedesign zu retten, durch die Verwirklichung der alten Idee von GOTHIC, das für uns beste - potentielle - Spiel der Welt.

Das ist was wir tun. Wir versuchen ein Zeugnis abzulegen, um an etwas zu erinnern, das im Auge eines in der Wachstumsideologie gefangenen und von der Kunst zur ‘Branche’ degradierten Handwerks untergeht: Liebe. Wir versuchen ein liebevolles Spiel zu machen, dessen Vision weder von Zeit noch Geld noch irgendwelchen Kompromissen korrumpiert wird, jenseits dem Reich der Notwendigkeit. Um der Liebe zur Idee willen versuchen wir, diesen Phönix aus der Asche der Industrie wieder zu entfachen und auferstehen zu lassen. Von Hand.

Und seien es auch zittrige Hände, wie die meinen.


Flosha

Florian aka flosha
15. März 2021

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